Der Fall Neithardt
Ein neues Buch enthüllt: Münchner Richter machte Hitler erst möglich
von Helmut Wunschel

Ein bayerischer Richter hat durch ein skandalös mildes Urtei1 gegen den „vorbestraften Putschisten Adolf Hitler“ die größte Katastrophe des vergangenen Jahrhunderts mitverschuldet. Zu diesem Schluß kommt der Münchner Rechtsanwalt und Gerichtsautor Otto Gritschneder in seinem neuen Buch. Der 1871 in Nürnberg geborene Jurist Georg Neithardt habe eine der letzten Chancen vergeben, Deutschlands Weg in die Diktatur und den verheerenden Zweiten Weltkrieg zu stoppen, so Gritschneder.

Das folgenschwere Urteil aus dem Jahr 1924 beschäftigt noch heute die bayerische Justiz, wie die „Neue Juristische Wochenschrift“, das Fachblatt der Richter und Anwälte, in einer Vorab-Rezension schreibt. Autor Gritschneder, der sich lange mit Neithardt beschäftigte, mußte warten, bis das Staatsarchiv in München die Akten freigab – wichtiges und brisantes Material für sein Buch über den damaligen Hochveratsprozeß gegen Hitler und seinen gnädigen Richter.

Gritschneder sieht das Verfahren in einem gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang. Mit dem Prozeß, sagt er, hätten die bayerische Justiz und ihr folgsamer Richter Neithardt unter der damaligen, „rechtsverkanteten bayerischen Regierung“ die Weichen gestellt von der rechtstaatlich demokratischen Ordnung der Weimarer Verfassung auf das abschüssige Gleis der kriegslüsternen Gewaltherrschaft des politischen Terroristen Hitler.

Nach dem sogenannten Hitler-Putsch am 8. November 1923 im Münchner Bürgerbräukeller und dem Marsch auf die Feldherrnhalle tags darauf war Hitler festgenommen und wegen Hochverrats angeklagt worden. Nach Auffassung Gritschneders mißachtete Bayern dabei bewußt die geltende demokratische Verfassung der Weimarer Republik, indem man Hitler nicht an den allein zuständigen Staatsgerichtshof in Leipzig überstellte. „Man klagte ihn stattdessen selber an, vor dem Münchner Volksgericht – und wohl in der Absicht, den Angeklagten möglichst zu schonen.“

„Menschliches Versagen“ und „Rechtsbeugung“ wirft Gritsclmeder dem Richter Neithardt im Rückblick vor. Neithardt hatte nach dem Studium der Rechtswissenschaft den entscheidenden Sprung nach München über die Amtsgerichte in Kronach und Neustadt an der Waldnaab geschafft. Mit nahezu krankhaftem Ehrgeiz empfahl sich Neithardt selbst für politische Prozesse. Doch ausgerechnet im sogenannten Hitler-Prozess, der seinerzeit großes Aufsehen erregte, zeigte der sonst so entschlossene Richter eine auffällige Entscheidungsschwäche.

Neithardt, Vorsitzender des Bayerischen Volksgerichts München 1 und Sympathisant der Ultrarechten, hatte Hitler am 1. April 1924 wegen Hochverrats nur zur Mindeststrafe von fünf Jahren Festungshaft verurteilt und ihm gleichzeitig die vorzeitige Entlassung auf Bewährung nach nur sechs Monaten Gefängnis in Aussicht gestellt. Das Bayerische Oberlandesgericht verfügte diese Entlassung dann am 19 Dezember 1924 in einer „schlechterdings unverständlichen Fehlentscheidung“, wie Gritschneder kritisiert.

Historiker gehen heute davon aus, daß die vorzeitige Freilassung die entscheidende Sekunde für Hitlers Aufstieg und Deutschlands Verderben gewesen ist. Hätte Hitler die ihm auferlegte Freiheitsstrafe voll verbüßen müssen, dann wäre er erst im Jahre 1929 freigekommen. Seine Bewegung wäre bis dahin zerfallen und vergessen gewesen, ist Gritschneder überzeugt. Eine „Machtergreifung“ wie 1933 hätte es denn jedenfalls nicht gegeben.

Das Urteil sei „mit Rechtsbeugungen und Verfahrensfehlern gespickt gewesen“, so der Autor. Und: Hitler wußte, was er seinem nachsichtigen Richter schuldig war. Schon wenige Wochen nach der Machtergreifung ordnete er die Beförderung Georg Neithardts zum Präsidenten des Oberlandesgerichts München an – ein Aufstieg, den Neithardt nur ein paar Jahre auskosten konnte. Auch das Ende der Diktatur bekam er nicht mehr mit. Er starb 1941, beschäftigte aber auch nach dem Kriege die Justiz.

Schuldsprüche, die ihn noch postmortal als Hauptschuldigen im Hochverratsprozeß belasteten und die Einziehung seines Vermögens zur Folge hatten, wurden vom Kassationshof des Bayerischen Sonderministeriums am 10. Juli 1951 aufgehoben. In der Folge gelangte Neithardts zweite Ehefrau Wilhelmine in den Genuß einer staatlichen Pension als Oberlandesgerichtspräsidenten-Witwe.

Die Frau starb 1992 im Alter von 99 Jahren.

Otto Gritschneders Buch über Hitler, Neithardt und die Folgen kommt voraussichtlich nächste Woche in den Buchhandel. Titel:
„Der Hitler-Prozeß und sein Richter Georg Neithardt“. Das Buch erscheint im Münchner Verlag C. H. Beck.

Quelle: „Welt“ 2001-10-05 Seite 35.
Mitgeteilt von RA Wolfgang Lazarek, Volkach.