Frankfurter Allgemeine Zeitung
Seite 12 / Montag, 17. Februar 1992, Nr. 40 Politische Bücher


Ein Spiegel des Bösen und des Guten

Das statistisch-biographische Handbuch über die Parlamentarier deutscher Minderheiten

Mads Ole Balling: Von Reval bis Bukarest. Statistisch-biographisches Handbuch der Parlamentarier der deutschen Minderheiten in Ostmittel- und Südosteuropa 1919-1945. 2 Bände. Dokumentation Verlag, Kopenhagen 1991. 1020 Seiten, Karten, Illustrationen, 198,- DM.

Von Gustav Hacker, dem 1979 verstorbenen früheren hessischen Minister für Landwirtschaft und Forsten (1955-1966), mag älteren politisch Interessierten noch geläufig sein, daß es sich um einen profilierten Vertriebenenfunktionär handelte. Auch daß Hacker zwölf Jahre dem hessischen Landtag als Abgeordneter der „Gesamtdeutschen Partei/Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten“ (GdP/ BHE) angehörte, die dort mit der SPD des Georg August Zinn koalierte. Daß Hacker 1953 stellvertretender Leiter des „Hessischen Landesamtes für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsbeschädigte“ und zuvor, seit 1950, im „Hauptamt für Soforthilfe“ tätig gewesen war, derlei Informationen sind auch Zeitgenossen kaum noch präsent und müssen bei Interesse mühsam erschlossen werden.

Eine Festschrift gibt es, von der Deutschen Gesellschaft für Agrarpolitik e.V. 1975 herausgegeben – Hacker war bis zum Tode Bundesobmann des „Verbandes vertriebener Bauern“ –, in der man spärliche Angaben über ihn findet. Sodann kann dem 1968 erschienenen Buch F. Neumanns, „Der Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten 1950-1960“, in Maßen Biographisches entnommen werden. Wer jedoch mehr über den 1945 in Prag verhafteten, internierten und zu schwerem Kerker verurteilten, 1949 in die Bundesrepublik ausgewiesenen sudetendeutschen Vertriebenenpolitiker wissen will, vor allem mehr über den Weg des am 20. September 1900 in Lubau, Bezirk Podersam, geborenen Landwirts durch die Wirren einer unheilvollen Zeit, der kann jetzt ein zuverlässiges Hilfsmittel zu Rate ziehen:
Das vorliegende Buch eines dänischen Germanisten und Historikers, Mads Ole Balling.

Darin findet sich auf Seite 296 die politische Biographie Hackers. Sie birgt Details, die in anderen personenbezogenen Publikationen – vielleicht aus verständlichen Gründen – nicht ausgebreitet worden sind. Demnach hatte Gustav Hacker nach dem Besuch der Höheren Landwirtschaftsschule Kaaden, nach praktischer Tätigkeit in landwirtschaftlichen Großbetrieben als praktizierender Landwirt zwischen 1928 und 1935 den Vorsitz des „Bundes der deutschen Landjugend in der Tschechoslowakischen Republik“ inne, der Jugendorganisation des „Bundes der Landwirte und des Ländlichen Gewerbes“ (BdL). Dem BdL, der bürgerlichen, agrarisch-deutschen Interessenvertretung im Prager Nationalrat (Parlament), stand Hacker vom 4. März 1936 bis zum 23. März 1938 vor. Vom April bis zum Oktober 1938 vertrat er, als Nachfolger des Parteivorsitzenden Franz Spina, eines Slawistik-Professors an der Deutschen Universität in Prag, der nach Differenzen im Parteivorstand über die künftige Linie sein Ministeramt und sein Abgeordnetenmandat niedergelegt hatte, den Wahlkreis III, Königgrätz, im tschechoslowakischen Parlament – allerdings nicht mehr als Abgeordneter des BdL, sondern als Fraktionsmitglied der „Sudetendeutschen Partei“ (SdP) des Konrad Henlein, in die Hacker den BdL am 22. März 1938 „überführt“ hatte.

Nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in das Sudetenland gemäß dem Münchner Abkommen von 1938 trat Hacker in die NSDAP ein, wurde für kurze Zeit eingezogen und übernahm nach Ableistung des Wehrdienstes für zwei Jahre den Vorsitz des Aufsichtsrats der Süddeutschen Zucker-AG. Zu Beginn des Rußlandfeldzugs mußte er abermals einrücken; in Dnjepropetrowsk wurde ihm aber bald – bäuerlicher Herkunft und organisatorischen Geschicks wegen – die Verwaltung der okkupierten Staatsgüter übertragen. Und von 1942 bis 1944 war er in führender Stellung in der (deutschen) Landbewirtschaftungsgesellschaft der Ukraine tätig – jetzt wieder als „Zivilist“. Als er nach Kriegsende in Prag verhaftet wurde, hatte er zuvor, seit Januar 1945, als Zentraldirektor des „Verbandes für Land- und Forstwirtschaft“ der Protektoratsregierung für Böhmen und Mähren angehört.

Die politische Biographie Hackers, wie sie Balling wiedergibt, zeichnet sich durch aufschluß- und hilfreiche Querverweise aus. So zu einem Abgeordneten der „Deutschen Christlich-Sozialen Volkspartei“ (DCSVP), Hans Schütz, und zu dem Sozialdemokraten Wenzel Jaksch, dem ambitionierten Vertriebenenpolitiker im SPD-Vorstand der Nachkriegszeit, mit denen Hacker 1936 eine folgenlos gebliebene „Jungaktivistische Bewegung“ proklamiert hatte. Sodann auch zur „Karpatendeutschen Partei“ (KdP), die mit der SdP im Prager Parlament einen gemeinsamen Klub (Fraktion) bildete. Und zu den anderen Abgeordneten und Senatoren der deutschen Minderheit in Böhmen, Mähren und der Slowakei, soweit sie in der „Deutschen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei“ (DSAP), in der DCSVP, im BdL, in der „"Deutschen Nationalpartei“ (DNP), in der „Deutschen Nationalsozialistischen Arbeiterpartei“ (DNSAP), der „Deutschdemokratischen Freiheitspartei“ (DDFP), der (ungarisch-deutschen) „ChristlichSozialen Landespartei“ (CSLP), der „Deutsch-Ungarischen Sozialdemokratischen Partei“ (DUSP), der „Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei“ (KPTsch), der „Deutschen Gewerbepartei“ (DGWP), der „Zipser Deutschen Partei“ (ZDP), der „Magyar Nemzeti Párt“ (MNP; der mit der CSLP vereinten Ungarndeutschen Partei), dem „Sudetendeutschen Landbund“ (SdLB), der KdP, der SdP, der „Deutschen Arbeits- und Wirtschaftsgemeinschaft“ (DAWG) organisiert waren oder den „raktionslosen“ zugerechnet wurden.

 

Balling, der damit eindrucksvoll die Zersplitterung und Zerstrittenheit der politischen Vertretung der deutschen Minderheit vor Augen führt, schlüsselt auf nach Legislaturperioden, Kammern, Wahlkreisen (bezogen auf Provinzen) der Ersten und der Zweiten Republik, ebenso wie er die deutschen Abgeordneten der zwischen 1939 und 1945 „selbständigen“ Slowakei und des Soim (Landtags) der kurzlebigen Karpathoukraine anführt, der nur einmal, am 14. März 1939 in Chust, zusammentrat, um die Republik zu proklamieren, bevor Ungarn noch an demselben Tag das Gebiet besetzte und es sich als „Karpatenland“ einverleibte. All dies ist Balling in plausibler, anschaulicher, übersichtlicher und vor allem eingängiger Weise gelungen.


Was für die Parlamentarier der deutschen Minderheit in der Tschechei und in der Slowakei gilt, trifft auch für jene in Ungarn, Rumänien und Jugoslawien sowie für die in Polen (einschließlich derer des Schlesischen Landtags 1922-1939), in Litauen (auch für jene des Memelländischen Seimelis von 1925-1939), in Lettland und Estland zwischen dem Ende des Ersten und des Zweiten Weltkriegs zu. Balling hat lückenlos alle 636 Abgeordneten und Senatoren erfaßt und sie in einer komparativen Analyse nach soziologischen und weltanschaulichen Kriterien mit den von ihnen repräsentierten Volksgruppen in Beziehung gesetzt. Für jeden Parlamentarier hat er ermittelt, wann, warum und unter welchen Umständen er von einern anderen ersetzt wurde. 15 Jahre hat der dänische Forscher unter widrigen Umständen (der Osten lag ja noch nicht so offen zugänglich da wie jetzt nach der Zerbröselung des Blocks) damit zugebracht, amtliche Statistiken, Parlamentsstenogramme, Archive, veröffentlichte und unveröffentlichte Quellen, Memoirenliteratur, Presseerzeugnisse und landsmannschaftliche Periodika auszuwerten und noch lebende Gewährsleute zu befragen. Ein dreifaches Register erschließt dieses mustergültige Werk, das gehörigen Respekt abnötigt und in seiner Aussagekraft nicht hoch genug einzuschätzen ist.

Das Handbuch ist ein minderheitenpublizistisches Erzeugnis, das im wahrsten Sinne des Wortes in die Hand genommen werden muß, es wird, indem es eine Forschungslücke schließt, künftig all jene begleiten, die sich mit nationalen Minderheiten im allgemeinen, mit den deutschen im besonderen befassen. Ballings voluminöses Werk zeigt, daß es den deutschen Minderheiten zwischen den beiden Kriegen gelang, in allen gesetzgebenden Körperschaften zwischen Finnischem Meerbusen und Schwarzem Meer den nationalen Existenzwillen zu mobilisieren und zu behaupten. Der deutsche Minderheitenparlamentarismus verfügte auf dem Höhepunkt seiner Entwicklung über mehrere Ministerposten, über ein Netz politischer Parteien und Vereinigungen sowie über eine vielfältige Presse. Parlamentarier waren führend im „Europäischen Nationalitätenkongreß“ beteiligt, in dem 40 nationale Minderheiten aus 14 europäischen Ländern mitwirkten.


Seit Fritz Wertheimers Buch „Von deutschen Parteien und Parteiführern im Ausland“ (2. Auflage 1930) hat, soweit zu übersehen, niemand mehr einen Blick auf dieses umfassende und fesselnde Thema geworfen. Und es ist bezeichnend, daß sich kein deutscher Historiker respektive Politologe an eine solche Bestandsaufnahme gewagt hat. Daher gebührt dem Dänen Mads Ole Balling Anerkennung, Respekt und Dank. Seinem Buch ist weite Verbreitung zu wünschen. Ein Spiegel des deutschen Volkes – im Bösen wie im Guten. REINHARD OLT

 

ZVAB:
Balling, Mads Ole
Von Reval bis Bukarest.
Statistisch-biographisches Handbuch der Parlamentarier der deutschen Minderheiten in Ostmittel- und Südosteuropa 1919-1945.
Band I u. Band II (somit komplett in 2 Bänden)

Kopenhagen. Dokumentation Verlag. 1991

Zwei Bände. XLII, 987, (1) Seiten. Mit mehreren Plänen u. Karten. Ill. OBrosch. 23x16 cm

Band 1: Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechoslowakei.
Band 2: Ungarn, Jugoslawien, Rumänien, Slowakei, Kapaten-Ukraine, Kroatien, Memeländischer Landtag, Schlesischer Landtag,
             Komparative Analyse, Quellen u. Literatur, Register.

             [Schlagworte: Ostgebieter Minderheit Osteuropa Auslanddeutschtum Politik Statistik Verschiedenes Varia]
weicher Einband. Artikel-Nr. Bestell-Nr.61591
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